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Im Gleichgewicht der

Katastrophen

Notizen für Unzeitgenossen

("Here I am, inspired to write only because I´m pissed off. (Kurt Cobain, Diaries")

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Goedart Palm EssaysWarum noch schreiben? In der Allherrschaft von Informationen provoziert die Abundanz und Gemächlichkeit von Literatur den rasenden Zeitgenossen. Literatur steht unter dem Verdacht, ein Flaneur zu sein, die Welt mit nebulösen Begriffen von Nischenpositionen aus zu verfehlen. Niemand will sich mehr, wie weiland Baudelaire, das Tempo von einer Schildkröte angeben lassen. Auch die Hartnäckigkeit der Feuilletons, die ihren Stoff scheinbar ungebrochen verteidigen, kaschiert nicht den Selbsterhaltungscharakter dieser Unternehmungen. Literatur ist nicht länger eine stark nachgefragte Aufklärung der gebildeten Welt, sondern Stoff schwacher Distinktionen für aussterbende Gesellschaften. Milieus statten sich mit je eigenen Lektüren aus und geben ihrem lifestyle ein blasses decorum. Wer sich über die menschliche Seele "informieren" will, liest längst nicht mehr Dostojewski, Nietzsche oder Flaubert, sondern greift je nach Verständnishorizont auf Wissenschaft oder psychologische Weichspüler zurück.

Leben kann man nicht für andere - Schreiben schon. Das macht das Schreiben verhältnismäßig einfach. Ungezählte Leit- und Leidfäden des richtigen Lebens haben den vormals oft ungebrochenen Glauben an die Beherrschbarkeit des Lebens zunichte gemacht. Im Patchwork der Entübelung werden alte Heilsrezepte neuverschrieben. Im Meer eilig verordneter Weisheitspartikel, unbekömmlicher Zaubertränklein und aus dem Kaffeesatz handverlesener omina entstehen windschiefe Konstruktionen, die hinter die großen Heils- und Erlösungsgeschichten zurückfallen. Unzeitgenossen werden ins trübe Elysium aus Talmi und Talmud, Totem und Tarot, Tinkturen und Torturen verschickt ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Die vormals enthustiastisch gefeierte Autonomie in den kleinen Erzählungen, der Tanz auf tausend oder mehr Plateaus haben Bindungsverluste nicht durch Bildungsgewinne ausgeglichen. Neugläubige Erzählungen im Sud von Old Newage, säkularisierten Ostreligionen und Sekten raffen an Werten zusammen, was im Ausverkauf noch erhältlich ist, aber die Entwertung der alten Währungen ist unaufhaltsam. Aufklärung war nie nur der Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit, sondern zugleich der Geborgenheitsverlust einer vormals stratifizierten Weltordnung. Die ist nicht zurückzubeten, auch wenn uns die Bilder aus den Kristallkugeln, aus den retrospektiven Vorhersagen dies aufdrängen. Die Gegner der Aufklärung sind allpräsent, wieder geboren in den Sümpfen der Vernunft, frech camoufliert als Wiedergänger einer Vernunft vor der Vernunft. Nach der Entzauberung der Welt betreiben sie mit alten Remedien die Wiederverzauberung des zivilisationsmüden Europas. Nicht besser die Fundamentalisierung des Orients, für den schon lange nicht mehr das "ex oriente lux" gilt. Holistische Fantasien aufgerüstet mit ökologischen, feministischen, schamanistischen Heilstheorien werden mit ihren semantischen Mehrfachsprengkörpern auf die immerschwachen Bastionen der Vernunft abgeschossen. Wo wenig auf Seelenfrieden hoffen kann, sind die Bewusstseine jeder Heilserzählung dankbar. Mit der Digitaltechnologie steht nun der mächtigste Anwärter auf die Zukunft bereit, ja mehr die Gegenwart soll Zukunft sein. In der Dialektik der Aufklärung regte sich bereits ein Anspruch auf die Erlösung von Mensch und Welt, der das Programm der Vernunft überhöhte, bis die Vernunft über ihre eigenen Füße stolperte. Aufklärung vergaß in ihrem rationalistischen Heilsversprechen die Bescheidenheit zu deklarieren. Alle Vernunftanstrengung stand je unter dem Vorbehalt, dass sie fragil und unabgeschlossen ist. Zeit wurde der Aufklärung weder von ihren Apologeten noch Widersachern kreditiert. Die Herrschaft des ungeduldigen Terrors gab alten Köpfen Recht, die es bis auf den heutigen Tag schon immer besser gewusst haben.

So steht Literatur unter dem Verdacht der Unverbindlichkeit für andere, hermetische Texte überzeugen niemanden mehr, Warenhausliteratur noch viel weniger. Erzählungen entstehen, die aus der Abschichtung ihrer Figuren von realen Existenzen leben. Exotischen, historischen und futuristischen Protagonisten entleihen wir den Stoff, aus dem die Träume einer anderen Lebensweise entstammen, die unsere (noch) nicht werden will...aber der Vorschein des Virtuellen dringt schon in unsere digitalen Zweit- und Drittverfassungen. Bannt das Virtuelle die unerträgliche Last des nicht korrigierbaren Lebens? Eher glauben wir, dass das 21. Jahrhundert von der Superkategorie des Virtuellen durchpflügt wird als an den Kampf der Kulturen, die keine mehr sind.

Diese Notizen verdanken sich dem Verdacht gegenüber Erzählungen, dem Verdacht der Nichterzählbarkeit des anderen Lebens. Ja mehr noch, die großen narrativen Entwürfe retten uns nicht aus der Alltäglichkeit, dass wir "irgendetwas" leben müssen. Das späteuropäische Leben ist kein wohlgefügter Roman, eher eine Ansammlung von Zetteln, Notizen und Palimpsesten, notdürftig verklittert und schlecht konserviert. Eine Zettelsammlung, die zwischen Geburt und Tod klebt und kaum je den Parnass erreicht. Erst nachgestrickte Mythen, die wir nicht schreiben werden, mögen die Korruptelen der Zufallstexte wider jede zeitgenössische Erfahrung glätten.

Lektürerichtungen mag hier jeder selbst finden. Es gibt kein Textzentrum, um das sich Aussagen gruppieren. Alles ist Zentrum - so gut wie Peripherie. Immerhin scheint es diese liebenswürdige Unterscheidung noch zu geben, sonst würden wir nicht davon reden. Das Werk ist, wie es sich für jedes respektable literarische Unternehmen gehört, nicht durch seine Verfassung abgeschlossen, sondern könnte auch völlig anders aussehen. Mögen spätere Leser den Text nach ihren Lektürelüsten ordnen oder fortschreiben. Wir präsentieren einige Differenzen, die sich jedem aufdrängen könnten. Deren Existenz gilt uns als ausreichende Rechtfertigung. Ergeben sich neue Differenzen, ist das ein Fortschritt der Erkenntnis. Die Frage, wer über die Differenzen entscheidet, muss in ihrer Anwendung beantwortet werden.

Immerhin, der Anlass zu schreiben, die inneren Notwendigkeiten, Erzähllust bis Mitteilungszwänge werden selten. Notwendig scheint gar nichts mehr zu sein. Im leidlich mit Sinn wattierten Leben gibt es nur unterschiedlich markante Beliebigkeiten. Bleibt für den Leser der Hinweis, den de Sade seinen 120 grausamen Tagen voranstellte, dass nicht jedem alles genießbar erscheinen mag, was er findet, aber immerhin genug für jeden, um etwas zu finden - und sei es die beglückende Feststellung, weltverträglichere Ansichten zu besitzen.

Goedart Palm

 

Meine Entwürfe zum Festspielhaus Beethoven Bonn

 

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Copyright. Dr. Goedart Palm 1998 - Stand: 05. Juni 2018.