Einem zweifelhaften
Gerücht zufolge soll sich Sophokles beim öffentlichen Vortrag einer langen Passage
seiner "Antigone" zu Tode gelesen haben, weil der Text mangels Interpunktion
keine Pause zuließ. Ein schöner Tod! Weniger Zweifel an dem Wahrheitsgehalt dieser
Schlussepisode eines unsterblichen Dichters kämen auf, wenn Sophokles Surfer gewesen
wäre, weil in den "zwischennetzlichen" Beziehungen auch ohne die Gnade von
Interpunktion, Zäsur und Maß agiert wird. Ja mehr: Das Internet präsentiert sich als
(Kon)Text aus Texten, die sich über Myriaden von Hyperlinks zu einer disparaten
Megaliteratur zusammenfügen, ohne die geringste Aussicht, eine endgültige Lektüre zu
gewähren. Interpunktionen im Netz sind vornehmlich Ermüdungserscheinungen
der user, die sich ab- oder entnetzen, wenn ihr Körper ruft. Darin treffen sich virtuelle
und reale Welten, Lese- und Lebenszeit einmütig bis unwillig.
Es gibt keinen Autor, der für dieses
expandierende Text-Bild-Werk stünde, keine, nicht einmal eine göttliche Signatur, über die sich dieser Text mit sich selbst
oder seinen Lesern endgültig verständigen könnte. Insofern erschließt sich dieses
alexandrinische "work in progress" keinem hermeneutischen Verstehen, sprengt
jede klassische Interpretationsanstrengung, prätendiert eine wuchernde Welt und ist doch
vorläufig - nur Text. "Literatur im Netz", "Webliteratur" als
subdomain dieser unwirtlichen Behausung versucht zumindest teilweise mit den
technologischen Möglichkeiten des Netzes Literatur als tendenziell unendlichen
Verweisungszusammenhang aufzurüsten, ohne der Sinnstiftung verlustig zu gehen.
"Hypertext", ohnehin das medienphänomenologisch
vorrangige Formelement neuer elektronischer Texte, eröffnet unzählige Schnittstellen,
Abzweigungen ins Irgend- und Nirgendwo, Aufbrüche in virtuelle Konstruktionen, ohne doch
ein Ziel dieser Reise angeben zu können. Freilich ist diese Kondition auch im
vermeintlich wirklichen Leben nicht neu, haben doch spätmoderne Gesellschaften mit immer
weniger Überzeugung geschlossene Biografien zugelassen. Goethes Leben als Gesamtkunstwerk
ist in Zeiten der beschleunigten Existenz undenkbar geworden. Was Freud zuvor schon für
die Psychoanalyse reklamierte, ihre Unendlichkeit, ist zum alltäglichen
Konstruktionsmodus des virtuellen Lebens geworden. Aber auch "real life" kann in
seinen vielfältigen Kontakten zur neuen elektronischen Herrlichkeit nicht länger
behaupten, ein Roman zu sein, sondern muss als patch-work aus Geschichte und Geschichten
ertragen werden.
Nun könnte die Hyperfiktionalisierung
der eigenen Geschichte im Hyperlink aber gerade die Remedur gegen die Zersplitterung der
individuellen Weltverhältnisse sein, wenn nicht gar die technologische Sinnrettung eines
in die Unendlichkeit geschleuderten Subjekts. Durchschlägt der Hyperlink die vorläufigen,
fragilen Konstruktionen des Selbst, um auch das zusammenwachsen zu lassen, was nicht
zusammengehört? Oder verfolgen wir nur den Zusammenschluss eines kollektiven Hirns mit
bio-technologischen Schnittstellen? Zumindest werden in der Ambivalenz des Hyperlinks
Zusammenhänge geschaffen, die von den allzeit "Sprungbereiten" für mehr oder
weniger sinnvoll gehalten werden können. Zwischen Konstruktion und Kontingenz provozieren
Hyperlinks permanent die Frage nach der individuellen Semantik, die einer seinem
real-virtuellem Dasein unterlegt.
Die Verweisungsphänomenologie des "Hyperlinks" in der
literarischen Arbeit ist noch wenig erschlossen, obwohl die literarischen Vorläufer
dieser Technik sich längst von ihren Anfangsgründen emanzipiert haben. Bereits ältere
Autoren wie Sterne oder Swift haben narrativ geschlossene Strukturen in Frage gestellt und
den unabgeschlossenen Text, die nichtabschließbare Erzählung als permanenten Vorwurf
gegen den Mythos und seine Prätentionen erhoben. Aber selbst der Mythos hat sich in
seiner geschlossenen Überformung der Weltverhältnisse als fragil erwiesen. Die über
Jahrhunderte ausgedehnten Redaktionskollektive diverser Weisheitsbücher erscheinen selbst
als Paradigma der Unabschließbarkeit des Mythos, seiner Veränderlichkeit und
Relativierungen im Lauf der Reproduktion. Jede Fiktion eines geschlossenen Textes
bestreitet sich selbst in seiner kollektiven Redaktions- wie Rezeptionsgeschichte.
Die frühe Literatur des 20.
Jahrhunderts, etwa Joyce, Döblin, aber auch Thomas Mann, später die Protagonisten des
noveau roman oder Arno Schmidt, haben diese Form der Intertexualität ausgebaut. Hier
werden mit unterschiedlichen Experimentierlüsten eine Vielzahl von Textsorten
vorgestellt, die der Konstruktion von Collage, Montage bzw. parafilmischen Schnitttechniken folgen. Diese Techniken entspringen
nicht nur der Adaption anderer künstlerischer oder technologischer Konstruktionsformen,
sondern folgen einer tiefen Verunsicherung gegenüber Schließungen, Einheitsprinzipien,
Weltbildern und allen übrigen Formen klassischer Selbstverteidigung gegen eine
Komplexität, die nicht mehr in der reduktiven Textproduktion oder Aneignung des Lesers
verarbeitet werden kann. Vereinfacht: Versagen Ideologien oder idealische Muster der
Welterschließung, bricht auch die Form auf. Geschlossene Formen werden zu
Abfallproduktionen, die den Trivialkünsten vorbehalten bleiben. Disney, Spielberg, aber
auch etwa Kinkel, Pilcher und tausend andere retten die geschlossene Geschichte wider ihre
längst vollzogene Destruktion. Deren Gläubige folgen einer antiquierten
Selbstverfassung, kaufen den Ablass von einer semantisch widerständigen Welt, weil anders
ihnen die Welt nicht erträglich erschiene. Nun sind aber selbst die trivialen Geschichten
in Cyberspace oder in der neuen software längst zu infiniten Geschichten mutiert, die
nicht länger auf Geschlossenheit zielen. Auch die autopoietischen
Schließungen, die von Systemtheorien und radikalen Konstruktivisten beobachtet
werden, retten gerade nicht die relative Sicherheit einer geschlossenen Lektüre, sondern
verarbeiten, was semantisch keine Beziehung eingeht, durch bloße Anerkennung des
Bestehenden. Vereinfacht: In einer bindungslos gewordenen Welterschließung wird die
Wahrheitsfrage suspendiert, um nicht jeden Pragmatismus des Handelns zu verlieren.
Mit den elektronischen Sprungbrettern in
die unauslotbare Komplexität des Netzes wird der Abbau ideologischer Sicherheiten
endgültig besiegelt. Vielleicht kam es nicht von ungefähr, dass die letzte große
Bastion einer geschlossenen Weltdichtung, der Sozialismus, fast zeitgleich mit dem
Vormarsch der Virtualität eingeäschert wurde. Ab jetzt werden nur noch Brücken gebaut
und schwankende Pontons verlegt, wo zuvor noch Paradiese mit immerwährender
Zufriedensheitsgarantie aufscheinten. Auch wer gegenüber Korrespondenztheorien der
Literatur, der relativen Spiegelung von Welt und Text skeptisch ist, wird nicht die
Wirkungsmacht solcher Bodenverluste auf Literatur abstreiten können. Von der Inflation
des Romans als der Form der Formlosigkeit bis hin zur "Hypermania" wird jede
Hoffnung auf einen archimedisch festen Punkt der Weltenthebelung vereitelt.
"Hyperlinks" sind danach nicht
nur die vorläufige Hochform der künstlerischen Montage, sondern "bodenlose"
Fortbewegungsmittel, die unausweichliche Exkurse, autonome Schnittstellen der Rezeption,
Abschweifungen und Aufbrechungen der Form zum beherrschenden Konstruktionsprinzip der
Literatur werden lassen. Als Gestaltungsprinzip greift die Vernetzbarkeit nicht nur in die
technologische Form ein, sondern gibt auch dem Bewusstsein einen nachhaltigen Eindruck
seiner synaptischen Konstruktion. Das könnte fast eine pastorale Beruhigung auslösen,
wenn uns nicht das stammesgeschichtliche Wissen plagte, dass das Bewusstsein für andere
Weltbewältigungsweisen als Netznavigation angelegt ist.
Ist aber nach der Demontage der
Überlieferungen und ihrer Textkörper noch eine genuine Netzliteratur möglich, die sich
nicht dem Verdikt ihrer Beliebigkeit und Vergeblichkeit aussetzt? Wo liegt der Unterschied
zu tradierten Formen der Formdurchbrechung, wo der Zugewinn gegen die Anmutungen des
rasenden Weltgeists? Zunächst werden die getrennten Rollen der Autoren und Leser
nachhaltiger erschüttert als es bisherigen literarischen Formen je möglich war. Der Leser,
ohnehin jeder Rezeptionsästhetik nach ein Koautor, emanzipiert sich nun über die
auktorialen Maßgaben des Textes hinaus zum Produzenten seines eigenes Textes. Wer digital
liest, schreibt seine eigene "Hypergeschichte". Dabei wird der Hyperleser,
Überleser im doppelten Sinne fröhlicher Lektüre, aber endgültig aus der relativen
Geborgenheit einer geschlossenen Weltsicht in eine Struktur geworfen, die anderen Zeit-
und Raumlogiken gehorcht. Die Architektur des Netzes folgt einer paradoxen
Verräumlichung. Räume werden dynamisiert,
stehen gleichweit entfernt, jederzeit bereit, sich zu virtuellen Szenarien
zusammenzuschließen. Kaum lässt sich eine diskrete Trennung der Räume von der
Temporallogik des Netzes trennen. Fast scheint die Relativitätstheorie sich mit ihrem
Wissen von der Verschmelzung von Raum und Zeit auch als Makrotheorie des Netzes
anzuempfehlen. So ist das Netz weder zeit- noch raumlos, aber es geht aleatorische
Verhältnisse ein, inszeniert Architektur und Zeitschemata als fiktionale Beruhigungen
seiner disparaten Strukturen. Auffällig die Raummetaphorik des Netzes und seiner
Bewohner: "Websites", "Homepages",
"Places of interest", "Suchmaschinen", "Webcams"
suggerieren Örtlichkeit, um einer Dynamik zu entgehen, die längst Motor dieser
inszenierten Architekturfassaden ist, die wie Kulissen hin- und hergeschoben werde
können. Die Architekturmetaphorik ist nichts anderes als die hartnäckige Hoffnung auf
Bewahrung der Eigenzeit und so verwundert es wenig, dass permanent eine
Behäbigkeitstradition dem Rauschen des Netzes konfrontiert wird. So treten etwa
literarische Cafés vornehmlich eine Zeitreise an, um virtuelle Sahnehäubchen in
genießbarer Portionierung auf dem Kaffeesatz klassischen Literaturverständnisses zu
verteilen. Mit schwarzer Tinte soll ratifiziert werden, was längst kein Papier mehr
findet. Aber diese und andere Sinnrettungsversuche gegenüber einer flüchtigen Welt
geraden in den tendenziellen Widerspruch, eine verblichene Konvention gegen einen sich
jeder Tradition entkleidenden Prozess auszuspielen. Der Modus der
Antiquiertheit, die
verdrängte Angst nicht nur der Wortsetzer, ein evolutionäres Auslaufmodell zu sein, werden zu Schatten unserer
Bewegung. Dagegen mag man anschreiben, aber ob hier noch gnädige Revisionsinstanzen in
Zukunft Menschenmaß gewähren, ist zweifelhaft. Zuletzt noch einmal
Sophokles: Sein Sohn
soll, einer anderen fama zufolge, beantragt haben, ihn wegen Geistesschwäche unter
Kuratel zu stellen. Sophokles soll seine Richter durch Vorlesen von Versen aus seinem
Ödipus davon überzeugt haben, dass er noch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte sei.
Eine schöne Apologie vermutlich zu schön, um in den breiten Maschen schwindender
Aufmerksamkeit des Netzes noch wiederholbar zu sein.
Goedart Palm
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