Warum noch schreiben? In der
Allherrschaft von Informationen provoziert die Abundanz und Gemächlichkeit von Literatur
den rasenden Zeitgenossen. Literatur steht unter dem Verdacht, ein Flaneur zu sein, die
Welt mit nebulösen Begriffen von Nischenpositionen aus zu verfehlen. Niemand will sich
mehr, wie weiland Baudelaire, das Tempo von einer Schildkröte angeben lassen. Auch
die Hartnäckigkeit der Feuilletons, die ihren Stoff scheinbar ungebrochen verteidigen,
kaschiert nicht den Selbsterhaltungscharakter dieser Unternehmungen. Literatur ist nicht
länger eine stark nachgefragte Aufklärung der gebildeten Welt, sondern Stoff schwacher
Distinktionen für aussterbende Gesellschaften. Milieus statten sich mit je eigenen
Lektüren aus und geben ihrem lifestyle ein blasses decorum. Wer sich über die
menschliche Seele "informieren" will, liest längst nicht mehr Dostojewski,
Nietzsche oder Flaubert, sondern greift je nach Verständnishorizont auf
Wissenschaft oder psychologische Weichspüler zurück.
Leben kann man nicht für andere -
Schreiben schon. Das macht das Schreiben verhältnismäßig einfach. Ungezählte Leit- und
Leidfäden des richtigen Lebens haben den vormals oft ungebrochenen Glauben an die
Beherrschbarkeit des Lebens zunichte gemacht. Im Patchwork der Entübelung werden alte
Heilsrezepte neuverschrieben. Im Meer eilig verordneter Weisheitspartikel, unbekömmlicher
Zaubertränklein und aus dem Kaffeesatz handverlesener omina entstehen windschiefe
Konstruktionen, die hinter die großen Heils- und Erlösungsgeschichten zurückfallen.
Unzeitgenossen werden ins trübe Elysium aus Talmi und Talmud, Totem und Tarot, Tinkturen
und Torturen verschickt ohne Hoffnung auf Wiederkehr. Die vormals enthustiastisch
gefeierte Autonomie in den kleinen Erzählungen, der Tanz auf tausend oder mehr Plateaus
haben Bindungsverluste nicht durch Bildungsgewinne ausgeglichen. Neugläubige Erzählungen
im Sud von Old Newage, säkularisierten Ostreligionen und Sekten raffen an Werten
zusammen, was im Ausverkauf noch erhältlich ist, aber die Entwertung der alten Währungen
ist unaufhaltsam. Aufklärung war nie nur der Ausgang aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit, sondern zugleich der Geborgenheitsverlust einer vormals stratifizierten
Weltordnung. Die ist nicht zurückzubeten, auch wenn uns die Bilder aus den
Kristallkugeln, aus den retrospektiven Vorhersagen dies aufdrängen. Die Gegner der
Aufklärung sind allpräsent, wieder geboren in den Sümpfen der Vernunft, frech
camoufliert als Wiedergänger einer Vernunft vor der Vernunft. Nach der Entzauberung der
Welt betreiben sie mit alten Remedien die Wiederverzauberung des zivilisationsmüden
Europas. Nicht besser die Fundamentalisierung des Orients, für den schon lange nicht mehr
das "ex oriente lux" gilt. Holistische Fantasien aufgerüstet mit ökologischen,
feministischen, schamanistischen Heilstheorien werden mit ihren semantischen
Mehrfachsprengkörpern auf die immerschwachen Bastionen der Vernunft abgeschossen. Wo
wenig auf Seelenfrieden hoffen kann, sind die Bewusstseine jeder Heilserzählung dankbar.
Mit der Digitaltechnologie steht nun der mächtigste Anwärter auf die Zukunft bereit, ja
mehr die Gegenwart soll Zukunft sein. In der Dialektik der Aufklärung regte sich bereits
ein Anspruch auf die Erlösung von Mensch und Welt, der das Programm der Vernunft
überhöhte, bis die Vernunft über ihre eigenen Füße stolperte. Aufklärung vergaß in
ihrem rationalistischen Heilsversprechen die Bescheidenheit zu deklarieren. Alle
Vernunftanstrengung stand je unter dem Vorbehalt, dass sie fragil und unabgeschlossen ist.
Zeit wurde der Aufklärung weder von ihren Apologeten noch Widersachern kreditiert. Die
Herrschaft des ungeduldigen Terrors gab alten Köpfen Recht, die es bis auf den heutigen
Tag schon immer besser gewusst haben.
So steht Literatur unter dem Verdacht der
Unverbindlichkeit für andere, hermetische Texte überzeugen niemanden mehr,
Warenhausliteratur noch viel weniger. Erzählungen entstehen, die aus der Abschichtung
ihrer Figuren von realen Existenzen leben. Exotischen, historischen und futuristischen
Protagonisten entleihen wir den Stoff, aus dem die Träume einer anderen Lebensweise
entstammen, die unsere (noch) nicht werden will...aber der Vorschein des Virtuellen dringt
schon in unsere digitalen Zweit- und Drittverfassungen. Bannt das Virtuelle die
unerträgliche Last des nicht korrigierbaren Lebens? Eher glauben wir, dass das 21.
Jahrhundert von der Superkategorie des Virtuellen durchpflügt wird als an den Kampf der
Kulturen, die keine mehr sind.
Diese Notizen verdanken sich dem Verdacht
gegenüber Erzählungen, dem Verdacht der Nichterzählbarkeit des anderen Lebens. Ja mehr
noch, die großen narrativen Entwürfe retten uns nicht aus der Alltäglichkeit, dass wir
"irgendetwas" leben müssen. Das späteuropäische Leben ist kein wohlgefügter
Roman, eher eine Ansammlung von Zetteln, Notizen und Palimpsesten, notdürftig verklittert
und schlecht konserviert. Eine Zettelsammlung, die zwischen Geburt und Tod klebt und kaum
je den Parnass erreicht. Erst nachgestrickte Mythen, die wir nicht schreiben werden,
mögen die Korruptelen der Zufallstexte wider jede zeitgenössische Erfahrung glätten.
Lektürerichtungen mag hier jeder selbst
finden. Es gibt kein Textzentrum, um das sich Aussagen gruppieren. Alles ist Zentrum - so
gut wie Peripherie. Immerhin scheint es diese liebenswürdige Unterscheidung noch zu
geben, sonst würden wir nicht davon reden. Das Werk ist, wie es sich für jedes
respektable literarische Unternehmen gehört, nicht durch seine Verfassung abgeschlossen,
sondern könnte auch völlig anders aussehen. Mögen spätere Leser den Text nach ihren
Lektürelüsten ordnen oder fortschreiben. Wir präsentieren einige Differenzen, die sich
jedem aufdrängen könnten. Deren Existenz gilt uns als ausreichende Rechtfertigung.
Ergeben sich neue Differenzen, ist das ein Fortschritt der Erkenntnis. Die Frage, wer
über die Differenzen entscheidet, muss in ihrer Anwendung beantwortet werden.
Immerhin, der Anlass zu schreiben, die
inneren Notwendigkeiten, Erzähllust bis Mitteilungszwänge werden selten. Notwendig
scheint gar nichts mehr zu sein. Im leidlich mit Sinn wattierten Leben gibt es nur
unterschiedlich markante Beliebigkeiten. Bleibt für den Leser der Hinweis, den de Sade
seinen 120 grausamen Tagen voranstellte, dass nicht jedem alles genießbar erscheinen mag,
was er findet, aber immerhin genug für jeden, um etwas zu finden - und sei es die
beglückende Feststellung, weltverträglichere Ansichten zu besitzen.
Goedart Palm
|