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Alte Menschen in Neuen Netzen

Gesellschaftlicher Medienterror wird seit längerem als Äquivalent demokratischer Persönlichkeiten umgemünzt. Die mediale Grundversorgung des zoon politikon veränderte sich zur richtungslosen Überrüstung politischer Partizipation. Die virtuelle Persönlichkeit führt uns weder zu den demokratischen Blütenträumen der Parteitagsprogramme noch in ein freigewähltes Exil der Selbstbescheidung. Am Textrand bemerkt: Herrschaftsfrei ist dieser entfesselte Text zuletzt, pure Macht ballt sich zusammen und wird alles verdrängen, was außerhalb liegt. Sozialpsychologisch betrachtet garantiert das Netz keine Solidargemeinschaften seiner Bewohner. Telesolidarität ist eine fragile Kategorie, da der sinnliche Zusammenhang von Menschen für den Netzbewohner die reale Ausnahme von der virtuellen Regel darstellt. Der soziale Autismus des klassischen Medienusers wird auch über die Interaktivität nicht aufgehoben, sondern bleibt ein typischer Habitus des "Monitoring", des Bildschirmlesens.

Stammesgeschichtliche Prägungen lasten auf den alten Köpfen, die keine Chance haben, ihrer "wetware" ein saisonal frisches "update" per mouseclick zu verpassen, wie es für software selbstverständlich ist. Die bedingte Konstruktion unseres Bewusstseins ist die Konstruktion der kleinen Welt, die wir aus dem großen Netztext herausschneiden. Auf diesen kleinen Texten, die dem Netztext abgerungen sind, lastet aber die immer währende Hypothek, dass sie schon im Entstehungszeitpunkt antiquiert sind, weil sich der große Muttertext, die Matrix des Weltwissen, fortspinnt. Die stammesgeschichtlichen Voraussetzungen des Gehirns binden jede Erkenntnis zunächst an die Lösung praktischer Probleme. Die Kausalität zwischen Magie und erfolgreicher Lebenspraxis war dem archaischen Bewusstsein selbstverständlich.

Ockham's razor hatte zur Zeit des Faustkeils noch keine Schärfe. Der kartesianisch-rationalistische Zugriff auf die Netzwelt ist eine Magie anderer Ebene. Wie jede ordentliche Magie löst sie gewaltige Probleme. So können Netzapologeten auf die funktionalen Zugewinne in der Praxis sämtlicher Lebensbereiche verweisen. Es ist Magie, weil dem Netz Zwecke entnommen werden, die auf den Leisten menschlicher Belange gelegt werden, ohne mit Zwecken zu rechnen, die die Funktionalität menschlicher Praxis verlassen. Es ist Magie, weil jede Remedur des Netzes - schneller! besser! umfassender! - durch gegenläufige Energien durchkreuzt wird. Wie soll sonst erklärt werden, wie digitale Viren auftreten? Wie soll sonst erklärt werden, dass die kollektive Beschleunigung den Einzelnen permanent verlangsamt? Die Ablösung der kartesianischen Altmagie, die uns das Netz erklären will, steht noch bevor. Das schwarze Loch, in das sie kollabiert, kann nur erahnt werden. Sicher aber sind Bedenken gerechtfertigt, ob sich binäre Logik, Diskursivität und die anderen Errungenschaften des homo sapiens sapiens als Endpunkte des Netztextes aufrechterhalten lassen. In der Komposition einer produktionswütigen Schöpfung, die zugleich wie ein großer Müllschlucker alle ihre Kinder frisst, ist das Individuum die kläglich-heroische Variante eines alteuropäischen Themas, das jetzt im Netzkollektiv beendet wird. Marshall McLuhan im Anblick der fossilen Massenmedien vom Untergang des Individuums menetekelte, lässt sich heute ungleich substantiierter diese Entwicklung wahrnehmen. Netzbewohner speisen sich als Zeichen in das autopoietische Netzgesamtkunstwerk ein: Wie kleine Textpartikel fügen sie sich in den Hypertext ein, bilden Wörter, Sätze, Diskurse etc. Zum Ebenbild des Allmächtigen haben sich die Menschen zu allen Zeiten vermessen. Doch heute schiebt sich der babylonische Turm, den die Netzmetapher ersetzen mag, zur Wirklichkeit empor, ohne in der Hybris des Menschen einzustürzen. Diesmal stellen wir es klüger an, mit Netz und doppeltem Boden. Die Selbstbescheidung des Menschentiers auf seine Ursprünge, das "Zurück zur Natur", die Holzwege ins einfache Leben, zu den Wiesengründen der frommen Denkungsart sind verstellt. Der Stil im Leben wie im Text, die alte Zauberformel des Individuums, liegt durchschossen von den digitalen "strings and arrows of outrageous fortune" darnieder. Apokalyptische Zustände gedeihen im Netztext einer rasenden Geschichte, von der keiner behaupten soll, es wäre unsere. Dabei ist es noch die durchsichtigste Ironie des Netzes zu suggerieren, die Nutzer wären Nutznießer, die Navigatoren Kapitäne.

INFORMATIONSTERROR begegnet den kurzgeratenen Netzriesen, die in das gigantische Fadenkreuz globaler Erscheinungen geraten. Die klassische Scheidung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird weggespült. In der allpräsenten Diskussion des Datenschutzes und der Vervielfachung der Sender, der Auflösung der klassischen Nachrichteninstrumente, zeigt sich die Brüchigkeit dieser Sphären. Diskurs- und Meinungszwänge gegenüber dem wuchernden Welttext lässt die überforderten Weltinformationsunterworfenen zwischen Euphorie und Apathie pendeln, mindestens aber reicht es zur Erfahrung struktureller Informationsmacht. Heute erleben wir die Aporien der ubiquitären Vernetzung jedes Menschen mit der angeschlagenen Totalbefindlichkeit dieser Welt. Das Individuum wird zum Monitor von Lektüren, deren Existenz gestern nicht mal geahnt wurde.

Goedart Palm


Die Zukunft des Internet, Essay bei telepolis zum zehnjährigen Jubiläum

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Copyright. Dr. Goedart Palm 1998 - Stand: 05. Juni 2018.